Atem des Lebens – Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott

Atem des Lebens – Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott

Eugen Drewermann
Atem des Lebens -Die moderne Neurologie und die frage nach Gott, Bd. 2: Die Seele. Zwischen Angst und Vertrauen

Nur wer des Menschen Angst versteht, begreift den Menschen ganz – in seiner Grösse wie in den Facetten seiner ständigen Gefährdung. Der 1. Bd. von „Atem des Lebens“ endete mit diesem Thema, der 2. Bd. beginnt damit: Wie, wenn die Angst uns an die Nieren geht, wenn sie uns ans Herz greift, wenn sie das Immunsystem durchlöchert? Was Psychoanalytiker jahrzehntelang nur ahnten, ist mit den Mitteln von Neurologie und psychosomatischer Medizin heute in strengem Sinne beweisbar. Doch wie erst, wenn Menschen unter dem ständigen Stress von Krankheit, Schmerz und Angst in Depressionen fallen oder wenn die Widersprüche der Welt, in der sie aufzuwachsen hatten, ihre Seele zu schizophrenen Bewusstseinszuständen zu zersplittern drohen? Angst ist nur möglich, wo Bewusstsein ist; was aber ist Bewusstsein, was Selbstbewusstsein, was Subjekt, was Ich, Person und Seele? Längs durch die ganze abendländische Philosophiegeschichte zieht sich die schier unlösbare Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist, von Leib und Seele, von „Realität“ und „Idealität“. Die modernen Naturwissenschaften (Kybernetik, Informatik, Genetik, Biopsychologie, Neurologie u. a.) erarbeiten derzeit eine Reihe von Modellen, um zu erklären, wie im Verlauf der Evolution die Gehirne von Wirbeltieren zu all den phantastischen Leistungen ihrer Sinneswahrnehmungen, ihrer Gefühle, ihres Erinnerungsvermögens» ihres biographischen Gedächtnisses befähigt wurden. Wo Theologen bis in die Gegenwart hinein das „Eingreifen“ eines «Schöpfergottes» postulieren und an die Existenz einer substantiellen Geistseele zu glauben vorschreiben, erklären sich die komplexen Phänomene „geistigen“ Lebens methodisch offensichtlich einfacher durch die hierarchische Zusammenschaltung parallel verarbeitender neuronaler Module bzw. durch das Auftreten emergenter Eigenschaften von einer bestimmten Organisationshöhe neuronaler Netzwerke an. Doch keine Erklärung vermag die Angst zu beseitigen, die dazu gehört, inmitten dieser Weit sich seiner selbst bewusst zu werden. Ursprünglich eingerichtet, um im Überlebenskampf flexibler reagieren zu können, wird das Bewusstsein zu einer schweren Hypothek des Daseins; daraus entstanden, in einer sozialen Gruppe die eigene Rolle erkennen und einnehmen zu können, taucht mit dem Selbstbewusstsein auch der Kampf um Macht und Selbstdurchsetzung auf. Nur umso mehr stellt fortan sich die Frage, was oder wer wir selber sind. Nicht weil sie falsch waren, sondern weil sie an dieser entscheidenden Stelle versagen, sind die Antworten der Naturwissenschaften ergänzungsbedürftig der Religion.

Die wohl wichtigsten Fragen der Gegenwart stellen sich nicht in den Auseinandersetzungen der – machtpolitisch, nicht eigentlich religiös – miteinander konkurrierenden monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam), sondern in dem längst überfälligen Dialog zwischen der Weisheitslehre des Buddhismus und der Frömmigkeitshaltung des Westens: wie erlöst man den Menschen von der Egozentrik seiner Angst, die dazu gehört, sich seiner Lage in der Welt bewusst zu werden? Sind Selbstbewusstsein und Person nur Täuschungen, die das Gehirn sich selbst erzeugt, oder bilden sie Erfahrungsräume von etwas Absolutem, das in sich selbst personhaft ist? Indem die Moderne Neurologie die uralten Menschheitsfragen nach der „Seele“ mit empirischen Mitteln zu beantworten versucht, macht sie die Religion nicht überflüssig, sie weist ihr allerdings den Raum zu, der ihr, recht verstanden, zukommt: den Raum der Daseinsdeutung, nicht der Welterklärung.

Immer wieder wurden in der Religionsgeschichte bestimmte Bewusstseinszustande, hervorgerufen durch Drogen, epileptoide Halluzinationen, mangelnde Versorgung spezifischer Hirnareale mit Sauerstoff oder durch elektromagnetische Felder, als Manifestationen göttlicher Mächte und Gestalten gedeutet; an all diesen Stellen kann und muss die Neurologie heute das Werk der Aufklärung vollenden: Gott, Seele, Freiheit und Unsterblichkeit sind keine naturwissenschaftlichen Denkens; die Religion darf Gott nicht vergegenständlichen, will sie nicht Glauben in Aberglauben, Mystik in Magie und Frömmigkeit in Fetischdienst verwandeln. Jenseits der Erklärungen der Naturwissenschaften aber werden die Inhalte des Religiösen nur desto dringlicher, um die Trostlosigkeit des menschlichen Daseins inmitten einer Welt zu heilen, die den Wert des Individuellen nicht zu kennen scheint, in der Gerechtigkeit nicht vorkommt und für die Mitleid gar erscheinen muss als Hindernis in der brutalen Strategie der Durchsetzung der Fittesten. Offenbar muss man die Personalität Gottes glauben, um die Person des Menschen nicht dem Zynismus des Kosmos und der menschlich-unmenschlichen Geschichte auszuliefern, muss man das kleine Leben von Menschen und Tieren ins Unendliche setzen, damit es mehr sei als eine Verrechnungsstelle im Energiehaushalt des Ganzen, muss man die Liebe für wirklicher nehmen als die Aggressionsreflexe archaischer Angst.

Was also folgt aus den (bisherigen) Ergebnissen der modernen Biopsychologie und Neurologie? Belässt man den Menschen in dem Erfahrungsraum, aus dem diese Erkenntnisse stammen, so droht er, als Teil der Natur, zum Gegenstand beliebiger Manipulationsversuche zu werden, in gesellschaftlicher Vermittlung vorangetrieben von den gleichen Mechanismen, denen die Evokation des Lebens selber sich verdankt. Der, biblisch gesprochen, „alte Mensch“ wird dann die Gefangenschaft seiner Angst, die Rücksichtslosigkeit wechselseitiger Konkurrenz und die Unbewusstheit seiner selbst inmitten eines ausufernden Herrschaftswissens ohne Weisheit bis dahin treiben, dass ein wirklich Neues nicht entstehen kann. Oder es tragen Neurologie und Theologie gemeinsam zu einer wirklichen Kulturrevolution bei: Noch niemals waren uns die Angst und der Schmerz schon der Tiere so sichtbar wie in unseren Tagen; noch niemals traten die Hilflosigkeit und die Ausgesetztheit des Menschen, seine Unfreiheit und seine Armseligkeit so eindrucksvoll ins Blickfeld, wie es derzeit geschieht. Und jetzt: nur einen Schritt weiter noch in die Zukunft – und wir könnten am Schnittpunkt der psychoanalytischen Neurosenlehre,  der neurologischen Theorien von Gehirn und Geist sowie der Lehre von Fall und Erlösung des Menschen in der (christlichen) Theologie uns befinden: an einem Ort, da alles Erklären sich öffnet zu einer tieferen Form des Verstehens, da unser aller kreatürliche Armut sich weitet zu einem universellen Erbarmen und da die empörende Aufdringlichkeit des Leids ihre Antwort findet in der Empathie eines Mitgefühls ohne Grenzen.

In der Reihe „Glauben in Freiheit“ stellt der vorliegende Band einen Abschluss dar; er entspricht thematisch denn auch am ehesten dem, was in der klassischen Dogmatik als „Eschatologie“ bezeichnet wurde. Ausgehend von einer Art psychologischer Fundamentaltheologie in Bd. 1 (Tiefenpsychologie und Dogmatik, Dogma, Angst und Symbolismus) über die „Christologie“ (Bd. 2: Jesus von Nazareth – Befreiung zum Frieden) waren die nächsten drei Bände der „Schöpfungslehre“ gewidmet: Bd. 3,1 (Der sechste Tag) beschäftigte sich mit der Herkunft des Menschen, Bd. 3,2 (… und es geschah so) mit der Entstehung und dem Aufstieg des Lebens und Bd. 3,3 (Im Anfang …) mit dem Ursprung der Entfaltung des Universums. Alle theologisch relevanten Gebiete der modernen Naturwissenschaften: Paläontologie, Biologie und Kosmologie treten somit vor dem Hintergrund der Erlösungssehnsucht des Menschen und der befreienden Botschaft des Mannes aus Nazareth in einen ebenso wichtigen wie spannenden Dialog ein, der in die Frage der beiden Bände von „Atem des Lebens“ mündet: Was dürfen wir hoffen?